Das Ärgernis

 

 

Elke Weselowski hielt sich den dünnen Mantel zu. Sie hätte doch besser die alte Winterjacke anziehen sollen, dachte sie sich, als sie die Klosterstraße entlang ging. Im November war es morgens häufig kalt, sie hätte es wissen müssen! Den Regenschirm hatte sie im Schirmständer in der Diele ihrer Mietwohnung stehen lassen, und wie immer, wenn ihn nicht dabeihatte, regnete es. Sie zog ihren Kopf ein und schlug den Kragen hoch. Dreckswetter! Sie bog in die Alfons-Stresemann-Straße ein. Noch etwa zehn Minuten bis zur Arbeit. Von Montag bis Freitag putzte sie bei Bauunternehmer Eckelmann, für sechs Euro fünfzig die Stunde. Schwarz selbstverständlich! Denn hätte Herr Eckelmann sie angemeldet, dann hätte sie das Geld gleich an ans Sozialamt abführen können. Besser die wussten nichts davon!

 

In der Hugo-Jablonski-Straße stapfte sie durch nasses gelbes Laub. Das hatte hier schon letzte Woche gelegen. Das das keiner wegmachte?! Früher hätte es das nicht gegeben!

 

Drei Häuser weiter hatte Doktor Haas seine Praxis. Ob Doktor Haas überhaupt ein Doktor war, wusste Elke gar nicht so genau, aber er hatte eine Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie, und wer so wichtige Sachen untersuchte, musste bestimmt eine Art Doktor sein. Ob Doktor Haas wohl auch ihrem Ollen helfen konnte? Der faule Sack, der bei ihr zu Hause am Küchentisch hockte, unentwegt Bier soff und sich beständig weigerte auf Angebote des Arbeitsamtes zu reagieren. Es wäre noch nicht das richtige für ihn dabei, sagte er unentwegt! Gottlob hatten sie keine Kinder! Das machte alles einigermaßen erträglich!

 

Die Rollläden waren hochgezogen, wie so oft, wenn sie an der Praxis vorbeikam. Auch das Licht brannte schon. In einem Raum, wohl das Wartezimmer, hing eine Scheibengardine. Etwas unpassend zwar für eine Arztpraxis, aber doch ein schönes Stück, mit Blümchen und feinen Stickereien. Aber diese Gardine hing schief! Jeden Morgen störte sich Elke daran. Nun, in der dunklen Jahreszeit war es besonders schlimm! Wie konnte ein Studierter, ein Mediziner noch dazu, so was dulden? Vielleicht war es doch keine gute Idee, ihren Mann ausgerechnet hierhin zu schicken.

 

Elke wollte schon weitergehen, da sah sie, wie zwei junge Mädchen in Praxiskleidung auf der Treppe eine rauchten. Bestimmt würden sie sich freuen, wenn sie sie auf die schiefe Gardine hinwies. Hoffnungsfroh ging sie auf die Mädchen zu und bat sie den Vorhang richtig zu hängen.

 

„Geh weiter, dumme Kuh!“, sagten sie, zogen an ihren Zigaretten und glotzten auf ihre Handys.   

 

Elke schüttelte erschrocken den Kopf! Früher hätte es das nicht gegeben!

 

Ein wenig wütend ging Elke weiter zu Herrn Eckelmann. Sie war spät dran! Hoffentlich war Herr Eckelmann nicht sauer!

 

Als sie am nächsten Morgen wieder an der Praxis vorbeiging, hing die Gardine immer noch schief!

 

Auch die ganze Woche danach schienen die Arzthelferinnen sie auszulachen. Warum tat denn der Doktor nichts dagegen?

 

 

 

Oberkommissarin Landsmann wollte schon seit ihren Polizeischulzeiten zur Mordkommission. Sie wollte ermitteln, Beweise auswerten und Verhöre durchführen. Am Ende wollte sie, nach Abschluss der Ermittlungen, dem Mörder die Schuld nachweisen, die Handschellen anlegen, die Rechte verlesen und schließlich verhaften.

 

Doch ausgerechnet ihr erster Fall hatte nichts von alledem. Am Abend des 27. November, kurz vor Feierabend, wurde sie zu einem Dreifachmord in einer Arztpraxis in die Hugo-Jablonski-Straße gerufen. Die Gerichtsmedizin, die schon wieder zurück ins Institut gefahren war, hatte einen Bericht mit Todesursache und Todeszeitpunkt zurückgelassen. Bei allen drei Opfern war der Exitus etwa gegen dreizehn Uhr eingetreten und die Todesursache war ein vergifteter Rührkuchen, den die Kollegen asserviert hatten. Der Wirkstoff war Bromadiolin, ein Gerinnungsmittel der zweiten Generation, welches häufig Verwendung in Rodentiziden, also Nager Giften, findet. Laut dem vorläufigen Bericht der KTU war der reichliche Gebrauch von Zitronentränke, der Grund dafür, dass die Opfer das Gift zu spät bemerkt hatten.

 

Kommissarin Landsmann wollte grade ins Präsidium fahren, um ein Profil des Täters erstellen, als sie von einer Frau in einem viel zu dünnen Regenmantel angesprochen wurde. Als sie die ältere Dame eben mit dem Hinweis vertrösten wollte, das Zeugenaussagen Morgen im Präsidium aufgenommen würden, meinte eben diese Frau, dass sie die Drei in der Arztpraxis getötet hätte!

 

Die Frau wurde festgenommen und in den Verhörraum des Polizeipräsidiums Mitte gebracht. Auf mehrfache Anfrage hin, verzichtete Frau Weselowski auf anwaltlichen Beistand. Kommissarin war erwartungsfroh, als sie die Tür öffnete und zu ihrer ersten Befragung in den Verhörraum trat. Nun hatte sie endlich Gelegenheit ihr jahrelang erworbenes Wissen in die Tat umzusetzen.

 

Sie hatte kaum Platz genommen, als die ältere Dame ein umfängliches Geständnis ablegte. Ohne Nachfrage, ohne irgendwelchen Druck, legte Elke Weselowski minutiös dar, wie sie am Vormittag des 27. November in die Praxis des Verstorbenen Doktor Haas gegangen war. In Ihrer Handtasche hatte sie besagten Kuchen und bot ihn den beiden Sprechstundenhilfen und Doktor Haas an, um sich für einen kürzlichen Streit zu entschuldigen. Die Opfer wären beim Eintritt des Todes zwar ein wenig überrascht gewesen, hätten aber wohl nicht lange gelitten. Als sie verstorben waren, hätte Frau Weselowski noch schnell im Wartezimmer für Ordnung. Dann hätte sie die Polizei verständigt.

 

Das Geständnis wurde getippt und der Verdächtigen zur Unterschrift vorgelegt. Nachdem Frau Weselowski unterzeichnet hatte, wurden ihr Handschellen angelegt und zwei weibliche Beamte wollten sie grade abführen, als Frau Landsmann doch noch eine Frage hatte. Warum sie denn drei Menschen getötet hätte, die sie nicht einmal gut kannte?

 

Frau Weselowski schaute aufrichtig in die Augen der Polizistin.

"Ach wissen sie, es ist ganz einfach! Die Gardine hing doch schief!"