Der Hauptmann von Warburg


Es war ein heißer Sommertag, als der viel zu frühpensionierte Diplompädagoge Werner Alexander Wiedemeier in seinem Lehnstuhl saß und über die Unbill seiner Existenz nachgrübelte.

 

Dreißig Jahre lang hatte er sich im Staatsdienst aufgerieben. Hatte renitenten Schülern Rechtschreibung und Grammatik der deutschen Sprache näher zu bringen versucht, war darin aufgegangen den undankbaren Rackern und Rackerinnen sowohl die Grundzüge der Demokratie, als auch der sozialen Marktwirtschaft begreiflich zu machen und hatte all seine, einstmals bärenähnlichen Kräfte, darauf verwendet seinem nicht minder ignoranten Lehrerkollegium begreiflich zu machen, dass Sozis einfach nicht zu wählen sind!

 

Über all die Jahre, hatte er den Stein alljährlich aufgenommen und versucht ihn jenen Berg hinauf zu rollen, den das Nordrheinwestfälische Kultusministerium immer wieder aufs Neue für ihn auftürmte und wie sein griechischer Bruder im Geiste es über all die Jahre auch immer und immer wieder getan hatte. Beklagt hat er sich selten, nur wenn bei seinen wenigen Tavernenbesuchen seine stummen Tränen in seinen Gerstensaft tropften und die besorgten Freunde ihn auf seinen Trübsinn ansprachen.

 

 

 

Gescheitert ist unser Freund letztlich an einer überbordenden Bürokratie, die ausgerechnet eine postkommunistische Ministerin vom Zaun gebrochen hatte.

 

So zog sich der geborene Unterweiser aus der Provinz und aus seinem geliebten Beruf zurück und kehrte heim in seine viel zu lang schmerzlich vermisste Heimat.

 

Nicht ohne Groll und auch nicht ohne eine saftige Pensionseinbuße.

 

 

 

So saß also der wackere Pädagoge im Ruhestand, wie einst Bismarck auf seinem Landgut, in seinem Lehnstuhl und schwitzte vor sich hin, als, wie aus dem wolkenlosen Himmel, ein heftiger Geistesblitz ihn durchfuhr.

 

Erst vermutete der inzwischen nicht mehr ganz junge Mann einen körperlichen Defekt und während er noch überlegte, ob er vielleicht einen Notarzt zu Rate ziehen solle, wurde ihm Gewahr, dass ihn ein Fingerzeig des Schicksals ereilt hatte und wie weiland der zupackende Reichskanzler durchströmte ihn eiserne Entschlossenheit!

 

Er würde sich holen, was ihm zustand und diese undankbare Gesellschaft ihm bislang vorenthielt!

 

Ein Plan war schnell gefasst! Er eilte zu einem seiner zahlreichen Kleiderschränke.

 

Der Ruheständler hatte derer zwölf!

 

Als Nachkriegsking kannte er noch echte Not, und Etwas dessen Nutzen sich einem nicht sofort erschloss, was aber noch nicht recht defekt war, konnte der Gute unmöglich einfach dem Müll überantworten. Irgendwann würde es einem bestimmt noch treue Dienste tun.

 

Lange suchen brauchte unser Freund indessen nicht! Einen genauen Plan im Kopf betrat er jenes Zimmer, wo er seine Devotionalien aus seiner aktiven Bundeswehrzeit aufbewahrte. Mit den gemurmelten Worten, „Was ein arbeitsloser Schustergeselle zustande bringt, gelingt einem Wiedemeier alle male…“, öffnete er beherzt den Kleiderschrank und zog zielsicher seine Ausgehuniform aus dem Konvolut. Unter einer schützenden Plastikfolie und gesichert gegen Mottenbefall, hielt er eine Uniform in Händen, die ihren Träger als Hauptmann der Luftwaffe auswies.

 

Ohne Umschweife entledigte er sich seines bequemen Hausanzuges und schlüpfte in seine alte Dienstkleidung. Sie passte ihm noch, wie zu dem Tage, als er sie empfangen hatte!

 

Behände stieg er in seine Knobelbecher, denn diese modernen Schnürkampfschuhe waren was für Neckermänner. Zog sich den Mantel über, den er mit einem Koppelschloss versah. Jetzt noch die obligatorische Schirmmütze (der alte Stahlhelm schien ihm doch ein wenig dick aufgetragen) und er fühlte sich beinahe wieder wie Mitte dreißig!

 

 

 

So trat er vor die Tür! Die Hitze, die das Land schon seit Tagen fest im würgenden Griff hielt, hatte eher noch zugenommen. Aber auch hier setzte sich der alte Kämpe in ihm durch und er schritt beherzt auf die Straße des Vororts.

 

Er warf einen prüfenden Blick auf seinen üppigen Fuhrpark.

 

Der Motorroller schied natürlich aus. Schließlich war man ja hier nicht in Rom!

 

Auch den Sechszylinder beschied er abschlägig, es musste etwas Imposantes her. Etwas was einem deutschen Panzer am nächsten kam. Er entschied sich für sein teilintegriertes Hymer Wohnmobil.

 

Beherzt steuerte der Pensionär das sperrige Fahrzeug durch die engen Gassen der Altstadt, um schließlich in der Bahnhofsstraße mit quietschenden Reifen zum Stehen zu kommen.

 

Einen angemessenen Parkplatz zu suchen entfiel natürlich genauso aus, wie das Ziehen eines gültigen Parktickets. So hüpfte unser stattlicher Recke vorsichtig (der Rücken) aus dem Führerstand seines eindrucksvollen Gefährts und streifte sich die dienstlich gelieferten Lederhandschuhe über. Denn ein deutscher Offizier weiß sich zu geben (auch bei 39°C im Schatten!) und betrat mit stechendem Schritt das Rathaus der Hansestadt.    

 

 

 

Am offenkundig nicht auf heftigen Publikumsverkehr eingerichteten Serviceschalter brachte sich der schneidige Ostwestfale in Positur und verlangte zackig, ganz wie es seine Art seit jeher war, „Morjen! Hauptmann Wiedermeier! Die Stadtkasse!?“

 

Der diensthabende junge Mann in kurzen Bermudashorts und T-Shirt, der eher gelangweilt von seinem Bildschirm aufschaute, fragte denn auch ebenso gelangweilt, „In welcher Angelegenheit?“

 

„Das braucht dich nicht zu interessieren, du Knirps!“, entgegnete der Offizier a. D. nun schon ein wenig ungeduldig.

 

„Dann kann ich dir nicht helfen, Meister! Ich kann ja nicht jeden hier rumlaufen lassen, wie es ihm gefällt!“, diesmal jedoch ohne von seinem Bildschirm aufzusehen.

 

Mit einem „Dir werd‘ ich helfen, Bürschchen!“, griff unser alter Kämpe über den Tresen und das Ohr des überrumpelten Knaben.

 

„Mit Deinesgleichen bin ich mein Leben lang Schlitten gefahren, Freundchen! Du zeigst mir jetzt den Weg zur Stadtkasse oder du kannst in Zukunft mit deinem Ohr segeln gehen!“

 

So zog der das ungleiche Gespann durch die verwaisten Gänge der Stadtverwaltung, bis sie vor den Türen der Stadtkasse zu Stehen kamen.

 

Der Feldherr ließ von seinem Opfer ab und baute sich noch einmal zur vollen Größe auf.

 

„Name!“

 

„Buttgereit!“

 

„Gut Buttgereit! Geh nach Hause und lass den Zeugungsakt wiederholen! Der erste ist misslungen!“

 

Nachdem er den Jungen mit diesem väterlichen Rat in sein restliches Leben entlassen hatte,

 

öffnete der Hauptmann beherzt die schwere Büropforte.

 

Ohne anzuklopfen, selbstverständlich!

 

Ein erfahrener Taktiker analysiert ständig die Lage und changiert mühelos zur entsprechenden Vorgehensweise! Und da sein Auftreten offenkundig in dieser verlotterten Gesellschaft nur noch wenig Eindruck schindete, griff er eben auf einen Kniff aus seiner Pädagogen Zeit zurück, mit dem er jeden noch so verträumten Pennäler zurück in den Unterricht geholt hatte.

 

Er kramte seinen drei Kilogramm schweren Schlüsselbund, der in den letzten Jahren eher noch an Gewicht zugelegt hatte, hervor und schmiss ihn beherzt auf den Schreibtisch der einzig anwesenden Schreibkraft, die liebevoll ihre bunten Fingernägel bearbeitete. Der Schreck fuhr dem armen Frauenzimmer dermaßen in die Glieder, dass sie erschrocken aufsprang und beinahe einer jener bunten Kunstwerke zerbrochen wäre.

 

Nun war dem Hauptmann jene Aufmerksamkeit gewiss, die ihm gebührte.

 

Nachdem sich die junge Dame von ihrem Schreck erholt hatte, wandte sie sich dem ungebetenen Gast zu.

 

Der übersprang die Begrüßung und kam gleich zackig auf den Punkt.

 

„Hauptmann Wiedemeier! Ich gedenke die Stadtkasse zu requirieren!“

 

Die junge Frau, die ohne weiteres die Enkelin unseres Helden hätte sein können, stand einen Moment benommen da, doch dann zahlten sich die ungezählten Deeskalationstrainings der Behörde mit einem Schlag aus. Sie nahm langsam hinter ihrem Schreibtisch Platz und sagte mit der Sanftmütigkeit eines kleinen Zickleins auf einer Blumenwiese,

 

„Guter Mann, wir haben hier schon seit Jahren kein Geld mehr! Das geht jetzt alles elektronisch! Aber ich habe hier 14,70 €, die haben wir für Frau Grabowski gesammelt, die geht bald in Ruhestand. Die kann ich Ihnen gerne überlassen!“

 

Als der tapfere Recke dies vernahm, verflüchtigte sich der eben noch stürmische Tatendrang unseres tapferen Kämpfers für die Ausgebeuteten und Entrechteten, wie die Perlen aus einer schalen Flasche Champagner.

 

War das noch seine Welt?

 

Er ließ die Schultern sinken und verließ den Ort seiner Niederlage.

 

Er schlurfte zurück durch die immer noch menschenleeren Gänge der Warburger Stadtverwaltung zur Eingangshalle, als von hinten eine Stimme seinen Namen rief.

 

„Herr Wiedemeier, Herr Wiedemeier, sie haben ihren Schlüssel vergessen! Kommen sie, ich bring sie raus!“

 

Die Schmach wollte kein Ende nehmen!

 

Die junge Beamtin auf Probe schloss das Wohnmobil auf, setzte den Pensionär auf den mit Lammfell bezogenen Fahrersitz, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und fragte abschließend besorgt, „Meinen sie es geht?“

 

Werner Alexander Wiedemeier konnte nur nicken und zuckelte davon!

 

Als er sein Wohnmobil eingeparkt hatte und sich in seinem Ankleidezimmer seiner Uniform entledigte, warf er einen letzten traurigen Blick auf seine alte Ordonanzwaffe. Jene Luger, mit der sein Großvater bei der Luftschlacht von Verdun noch Höchstselbst drei feindliche Flugzeuge vom Himmel geholt hatte.

 

Einen winzigen Augenblick dachte er darüber nach die ständig kläffende Töle endlich zum Schweigen zu bringen, doch er entschied sich dagegen.

 

Diese Zeiten waren vorüber. Unwiederbringlich!

 

 

 

Das hätte jetzt das Ende unserer kleinen Geschichte sein können. War sie aber nicht! Denn der kleine Buttgereit vom Empfang war nicht, wie von unserem Diplompädagogen empfohlen, nach Hause gegangen, sondern hatte sich mit seinem neuen Huawei 20 Pro auf die Lauer gelegt. Hatte mit der neuen Triple-Kamera mit Ultraweitwinkel den Abgang dieses seltsamen Mannes bis ins kleinste Detail festgehalten. Und weil der kleine Buttgereit außerdem noch aktiver YouTuber war und einen Master in Germanistik vorzuweisen hatte, war schon am selben Abend sein neues Video online.

 

 

 

Der Hauptmann von Warburg

 

 

 

Das Video ging innerhalb kürzester Zeit viral und der junge Künstler wurde mit Werbeeinnahmen nur so überschüttet. Und weil die Jugend von heute nicht so besitzfixiert war, wie die vielen Generationen vor ihnen, hatte er auch kein Problem damit seine Erlöse mit dem Star seines Videos zu teilen. Nicht, ohne ihn zu einer dauerhaften Zusammenarbeit zu überreden!

 

Jetzt verbringt unser guter Diplompädagoge nicht mehr seine Zeit damit über die Ungerechtigkeit des deutschen Beamtentums nachzugrübeln, sondern beantwortet  fleißig seine Fanpost!