Geschmacklos

 

 

Am Anfang glaubte Horst Stemmer noch er hätte Glück gehabt. Er hatte sich mit dem Covid-19 Virus infiziert, war aber nicht ernsthaft erkrankt. Nur einige Tage das Gefühl einer schweren Erkältung, dann war der Spuk vorüber, … dachte Horst zumindest.

 

 

 

Doch dann kam das böse Erwachen. Er hatte schon davon gehört, dass man bei einer COVID-Erkrankung vorübergehend Geruchs- und Geschmackssinn verliert, aber nun, da es ihn selbst erwischt hatte, war Verzweiflung ein viel zu kleines Wort.

 

Für jeden anderen, ja Gewöhnlichen, war es ein gutes Stück Verlust an Lebensqualität, wenn man eine Mettwurst nicht mehr von einer Gurke unterscheiden konnte. Aber für jemanden, wie ihn, dessen nahezu deduktive Geschmacksknospen bislang sein gesichertes Einkommen darstellten, war es eine Katastrophe!

 

 

 

Horst Stemmer war Sommelier. Einfach nur Sommelier, kein Brot-, kein Wurst-, kein Bier- und schon gar kein Wasser-Sommelier. Sein Berufsstand hatte Klasse, hatte Geschichte. Eine lange Geschichte und ja, verfügte über eine Noblesse, zu der die neumodischen Nachahmer nur neidisch aufschauen konnten.

 

 

 

Und doch war Horst nicht irgendein Kenner edler Weine aus aller Welt. Er war der Beste! In Fachkreisen nannte man ihn nur die Nase. Er entschied über das Wohl und Wehe ganzer Jahrgänge oder Weingüter. Wenn er sein Urteil fällte, hatte die Weinwelt nicht selten das Gefühl, einer Hinrichtung auf dem Place de la Concorde beizuwohnen und die Prägnanz des gefällten Urteils erinnerte die Leser nicht selten an das Surren, beim Fall des Guillotine Beils. Und die Weinwelt befiel das gleiche wohlige Gruseln, wie zum Ende des 18. Jahrhunderts, als die Köpfe massenhaft in die Körbe purzelten.   

 

 

 

Und nun das! Ausgerechnet jetzt, wo er unermüdlich den Acker bearbeitet hatte und endlich die Ernte einzufahren gedachte, nach all diesen strapaziösen Jahren, mit Entbehrungen und Demütigungen. Die Bewertung des Jahrgangs 2016 stand an und sein Standardwerk über das Anbaugebiet Rioja war beinahe fertig. Lediglich eine Rangfolge der besten Jahrgangsweine fehlte noch.

 

 

 

Stemmer fasste einen Plan. Er musste sich unbedingt durch die nächsten Tage lavieren, um sich dann schließlich in eine ausladende Weinreise nach Australien oder Argentinien zu flüchten. Die einzige Klippe, die es noch zu umschiffen galt, war die Saisoneröffnung bei der Weinhandlung Stutzer. Bei diesem Event traf sich regelmäßig die Hautevolee Kölns und stimmte sich auf die neuen Jahrgänge ein. Jahrgänge die er, Horst Stemmer, regelmäßig ankündigte, wie ein Conférencier die kommenden Nummern auf der Varietébühne. Und sein Publikum hing ihm dabei regelmäßig an den Lippen.

 

 

 

Und auf eben dieser Klippe würde auch dieses Jahr wieder Ludger Rakowski lauern, ein Redakteur des hiesigen Boulevardmagazins. Zuständig für Klatsch und Tratsch und ganz nebenbei auch noch für die Önologische Wochenendbeilage. Ein garstiger Neidhammel und Wichtigtuer, der schon lange der Meinung war, dass ihm die Deutungshoheit über die Kölner Weinrangfolge zukam. Normaleweise bedurften solche Gernegroße keiner besonderen Beachtung. Aber unglücklicherweise waren diese Zeiten alles andere als gewöhnlich.

 

 

 

So wappnete sich Horst Stemmer für diesen Vormittag im Kölner Süden. Wählte sein edelstes Jackett, komplettierte mit der passenden Krawatte, nebst Einstecktuch. Und fühlte sich schließlich geschützt, wie Ivanhoe, nachdem der Geldverleiher Isaak ihm seine Rüstung überlassen hatte.

 

 

 

So betrat er den Weinladen in der Luxemburger Straße und sagte im Stillen, nur um sich Mut zu machen: „Mögen die Spiele beginnen!“

 

 

 

Der erste Teil der Matinee verlief denn auch mehr als glücklich. Die Herausforderungen meisterte er mittels seiner geschliffenen Rhetorik. Kaum hatte er Wortfetzen wie: Tiefe, Tannine, Terroir oder Timbre von sich gegeben, lagen die zahlenden Gäste der Veranstaltung ihm zu Füßen. Vereinzelt wurden gar Taschentücher gezückt. Wonach die Exponate tatsächlich schmeckten, interessierte am Ende keine Sau.

 

 

 

Doch dann kam der zweite, der weitaus schwierigere Teil. Galt es doch einen Wein, ausschließlich mittels seiner olfaktorischen und gustatorischen Fähigkeiten zu bestimmen. Fähigkeiten, die im Augenblick eher stumpf daherkamen. Aber Stemmer hatte sich auch hier gewappnet. Weil in den vergangenen Jahren die besprochenen Weine nach der Veranstaltung regelmäßig durch die Decke gingen, hatte er Christina Stutzer gefragt, welchen Wein sie denn heuer besonders gut verkaufen möchte? Diese Frage wirkte auch wenig impertinent, weil er auch außerhalb der Weinebene mit Frau Stutzer verkehrte. Die Wahl fiel auf einen Rioja Alta Gran Reserva 890 Selecceción Especial 2005. Ein überschätzter Wein, wie Stemmer immer gefunden hatte, aber in der Not fraß der Teufel Fliegen.

 

 

 

Horst zog seine gewohnte Nummer ab. Goss den Wein, mit lässiger Übung aus dem Dekanter. Schwenkte gekonnt das bauchige Glas, schaute versonnen, wie der edle Tropfen die Sonne einfing, betrachtete Farbe und Kirchenfenster. Sog mit kennender Miene das vermeintliche Aroma ein, um schließlich mit heftiger Gesichtskirmes ein winziges Schlückchen zu verköstigen, welches er unter vernehmlichem Zwitschern den erforderlichen Sauerstoff zuführte.

 

Als er nach diesem, bei seinen Fans, nur zu bekannten Ritualen, ein wohlwollendes Urteil über den spanischen Klassiker fällte, brandete tosender Applaus auf und nicht wenige der anwesenden Damen warfen ihm unzweideutige Blicke zu.

 

 

 

Sein Plan ging auf. Der Tag war ein voller Erfolg. Christina schenkte ihm ein verheißungsvolles Lächeln und die Meute hatte, was sie wollte und er war mit sich mehr als zufrieden. Stemmer erlaubte sich seine Sorgen beiseitezuschieben und den Jubel und die Ovationen zu genießen. Einige seiner Fans fragten gar nach Autogrammen. Er ließ sich treiben, schwatzte mal hier, plauderte mal dort und schwamm wohlig in der Menge, bis …! Ludger Rakowski ihn jäh ausbremste. Er stand in der Mitte des weitläufigen Verkaufsraumes, wie der besagte Fels in der Brandung und hielt eine Weinflasche in Händen.     

 

 

 

Stemmer ahnte, was nun folgen würde. Zweifellos würde Rakowski ihn zu einer weiteren Blindverkostung herausfordern. Einer ohne Hintertürchen, und wenn er sein Gesicht, hier vor all seinen Fans wahren wollte, dann musste er sich auf das Spielchen einlassen.

 

 

 

Gekonnt entkorkte der Schreiberling eine abgeklebte Flasche, goss einen Roten in ein bauchiges Glas und hielt es ihm hin. Horst seufzte still in sich hinein. Die Art der Flasche deutete, in ihrer Form auf einen Burgunder hin. Also die gebräuchlichste Form schlechthin. Er nahm das Glas entgegen und versuchte ein Zittern zu unterdrücken.

 

 

 

Rakowski grinste schmierig und trat auf ihn zu. „Ich weiß, dass Sie ihre sagenumwobenen Sinne verloren haben! Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: „Die Nase riecht nix mehr!“

 

Stemmer musste schlucken. Wenn er jetzt versagte, war sein Lebenswerk dahin und die angestrebte ausgiebige Reise in die Anbaugebiete der weiten Welt, zu der sich Christina eben erst ihre Begleitung zugesagt hatte, würde einer überstürzten Flucht gleichkommen.

 

 

 

Aber ein Horst Stemmer gab sich erst geschlagen, wenn er am Boden lag! Er grinste den Schmierfinken siegesgewiss an und schaute in die sensationslüsterne Meute.

 

 

 

Dann hob er sein Glas und schwenkte es einige Male. Dabei beobachtete er, mit welch öliger Trägheit der Rotwein, am Glasrand zurückglitt. Seine langjährige Erfahrung sagte ihm, dass der Wein vor exakt acht Jahren gekeltert worden war.

 

Erneut schwenkte er den Inhalt des Glases. Die rote, ins bräunlich tendierende Farbe zeugte von einer gewöhnlichen Traube. Allerdings weder eine Cabernet-Sauvignon- noch eine Tempranillo-Rebe. Hier handelte es sich um etwas Besonderes, eine exotischere Sorte. Seine erste Wahl fiel auf die Malvasía Rosada, wie sie auf Lanzarote angebaut wurde. Aber die besondere Schattierung ließ letztendlich nur die Möglichkeit zu, dass es sich um etwas völlig anderes handelte.

 

 

 

Horst Stemmer atmete tief durch. Er musste diesen Wein bereits gekostet haben. Ach was, gekostet! Es war ein Gelage, damals in den geräumigen Kellern und später am Pool, des Weingutes der Familie Barone de Scammacca di Murgo, östlich des Ätna, auf der Insel Sizilien. Als Michele ihm noch berichtet hatte, dass dieser Jahrgang vom Ausbruch des Mongibello, wie ihn die Einheimischen nennen, besonders gekennzeichnet worden war und der monatelange Ascheregen sich schließlich in den Trauben niedergeschlagen hatte und alle Weine dieses Jahrgangs gezeichnet waren, mit unverkennbaren Schwebeteilchen aus Kieselsäure und Basalt. Dieser Einschlag sorgte auch für ein unverwechselbares Depot. Und wie alle Weine, die jemals seine Zunge umschmeichelt hatten, wusste er noch genau, wie er geschmeckt hatte.

 

 

 

„Mein lieber Rakowski, ich bin ein wenig enttäuscht, dass Sie mich mit einer solch simplen Aufgabe behelligen! Der Wein, den Sie dort in Händen halten, ist ein Ätna Rosso Tenuta San Michele des Jahres 2013. Angebaut an den Hängen des Ätna aus der Nerello Mascalese Traube. Ausgebaut von der Familie Scammacca di Murgo. Gewöhnlich herrschen bei diesem Wein Vanille und das Aroma von gerösteten Haselnüssen vor. Aber die Besonderheit dieses Jahrgangs ist eine irdische Note, hervorgerufen vom heftigen Ausbruch des Ätna zu Beginn des Jahres.“

 

„Aber …, aber Sie haben den Wein noch nicht einmal probiert …“, stammelte der Klatschreporter konsterniert und legte das Etikett frei.

 

Horst blickte in die Menge, die gebannt dem Schauspiel folgte. Dann schaute er Rakowski an und lächelte milde. „Das muss ein echter Weinkenner auch gar nicht!“

 

Und die Menge brach in tobenden Jubel aus!

 

 

 

Als Horst Stemmer einige Wochen später am Pool saß und eine zwei Tage alte Kölner Tageszeitung las, stolperte er über die Meldung, dass man Rakowski gefeuert hatte. Die Blamage war wohl selbst für das Klatschblatt zu viel des Guten.

 

Er reichte die Zeitung rüber zu Christina, die sich nebenan auf der Liege räkelte. Dann schaute er hinüber zum Ätna, der wie zum Gruß ein Aschewölkchen ausstieß. Die beiden waren nicht nach Argentinien oder Australien gefahren. Irgendwie hatte er es für richtig gehalten, nach Sizilien zu kommen und auf seine Genesung zu hoffen.

 

Inzwischen konnte er sogar schon wieder Knoblauch riechen. Bald würde es Abendbrot geben!

 

 

 

 

 

 

 

* Die Geschichte ist eine Hommage an den fantastischen Louis de Funès. Die Informationen zu der Geschichte verdanke ich den Seiten #wein-welten.com & #sizilien-weine.de