Der traurige Hans

 

Hans blies seufzend die Luft aus. Seit Stunden hatte sich niemand mehr an seinen Stand verirrt. Erst hatte er vermutet, dass es an seiner Verbannung aus Halle 1 lag. Dort in der Mitte der Messe der Aktionsgemeinschaft für Märchenwirtschaft ging es hoch her. Dort waren die Stars der Branche,

 

die stattlichen Helden, die goldenen Gänse oder die lieblichen Prinzessinnen. Über Jahre hatte Hans dort immer seinen Stammplatz inne gehabt. In den guten Jahren wollte der Strom der Kunden nicht abreißen, die seine Produkte kaufen wollten: den unzerreißbaren Ariadnefaden, bestens geeignet für verwinkelte Labyrinthe, ein Kieselsteinlegegerät oder sein Lieblingsprodukt, den Brotkrumenstreuer, dem unverzichtbaren Begleiter im finstren Walde. Darauf hatten seine Schwester und er sogar ein Patent!

 

   Aber seit Jahren jedoch ließ die Nachfrage zu wünschen übrig. Wer brauchte in Zeiten von GPS schon   

 

   eine Spur von Brotkrümeln, um den Heimweg zu finden?

 

Hans nippte an seiner Milch. Es waren schwere Zeiten für die Märchenbranche! Nicht nur

 

seinem kleinen Geschäft fehlten die Kunden auch seine Kollegen klagten über

 

Absatzschwierigkeiten.

 

Glyphosat machte einen geschickten, tapferen Schneider genauso überflüssig, wie   

 

Bittcoins den Sterntaler.

 

Was waren das für goldene Zeiten gewesen, als die Branche sich seinerzeit an Jacob  

 

und Wilhelm Grimm gewandt und gemeinsam mit den Brüdern einen Warenkatalog  

 

entwickelt hatte, der über die Jahre seines gleichen suchte. So war es den  

 

Anbietern von Märcheneqiupment über einen sagenhaft langen Zeitraum

 

dermaßen gut ergangen, dass sie sich selbst wie im Schlaraffenland wähnten.

 

Traurig schüttelte Hans seinen alten Kopf und schaute die leeren Gänge auf und ab. Von oben kam eine Mutter mit ihrem Jungen auf einem Dreirad. Doch der fette Sprössling trampelte nicht etwa selbst, sondern ließ sich von seiner armen  Mutter schieben. Überraschenderweise kamen sie auf Hans‘ Stand zu.

 

„Verzeihung, führen sie Einhornglitzer?“; fragte die kleine Frau, ein wenig schüchtern. Doch bevor der Standbesitzer antworten konnte, blökte der Bengel „Ich will einen Zauberstab! Frag nach einem Zauberstab!“

 

„Leider nein, gute Frau, weder das eine noch das andere. Ich kann euch feinste Wegweiser feilbieten!“

 

Die Mutter schaute etwas irritiert drein. „Ja….! Ja dann geh ich mal weiter.“

 

„Was ist mit meinem Zauberstab?“, quengelte der Spross von unten, „Ich will jetzt endlich meinen Zauberstab!“

 

Das Gespann setzte sich in Marsch und als der Rotzlöffel sich noch einmal umdrehte, streckte er Hans die Zunge raus. Der ließ sich nicht lumpen und konterte mit der schlimmsten Grimasse, die sein faltiges Gesicht herzugeben vermochte. Erst schaute der Bengel verdutzt, dann fing er entsetzlich an zu Brüllen.   

 

Hans schüttelte erneut den Kopf. Einhornglitzer! Ja, bei den Einhörnern lief es augenblicklich prächtig. Ob Tassen, Bleistifte oder Bettwäsche, es gab kaum etwas, von wo einem nicht die niedlichen Fabelwesen entgegen lächelten.

 

Ein lauter Knall riss Hans aus seinen Gedanken. In der Nachbarhalle, wo sich die Magier dieses Jahr eingemietet hatten, knallte es wieder mal und eine erneute Welle von Schwefel schwängerte die Luft.

 

Auch die Zauberer hatten keinen Grund zur Klage. Seit sie die gute Idee von damals erneut aufgegriffen und einer britischen Sozialhilfeempfängerin die siebenbändige Abenteuergeschichte eines jungen Zauberlehrlings vorgelegt hatten, konnten sich die Nachfahren Merlins vor Aufträgen kaum retten. Ob Hexenbesen, Kupferkessel oder eben Zauberstäbe, alles riss man ihnen aus den Händen.

 

Hans schaute erneut die Gänge entlang. Heute würde es nichts mehr, entschied er und räumte die Prospekte vom Tresen, steckte Thermoskanne und Brotdose in seine Aktentasche und zog die Rollläden herunter. Schluss für heute!

 

Er wandte sich dem Ausgang entgegen, als eine Rotte Kobolde ihm den Weg versperrte. Während sie an ihm vorbeiströmten, wie ein Bächlein um einen großen Stein, drückte einer der kleinen unleidlichen Kerle ihm ein Flugblatt in die Hand.

 

 Endlich Schluss mit der Erniedrigung der Bösewichter! Auch Wölfe, böse Stiefmütter

 

und faule Schwestern haben Rechte! Kommen Sie zur Kundgebung in Halle 8!

 

 

 

Das war ja nicht von der Hand zu weisen, dachte Hans, aber dafür ließen sich die  Unholde aber auch bestens entlohnen. Unter hundert Talern war an einen hinterlistigen Waldelf schon lange nicht mehr ranzukommen. Von einem bösen Riesen ganz zu schweigen.

 

Er ging durch die Hallen zum Ausgang West. Er hatte es beinahe geschafft, als er miteiner Gruppe Halbwüchsiger zusammenstieß. Sie bemerkten ihn nicht einmal,stattdessen ließen sie ihn einfach stehen und starrten weiter auf ihre Handys. Hans schüttelte den Kopf, das war die Jugend von heute. Das echte Leben war denen vollkommen fremd! Ihretwegen Morgen wieder seinen Laden zu öffnen rief bei ihm

 

wenig Begeisterung hervor!

 

Draußen angekommen, ärgerte sich der Märchenunternehmer. Es hatte zu nieseln begonnen und sein Schirm stand wohlbehütet in seinem Stand. Er überlegte ihn zu holen, seufzte müde und zog sich seinen Kragen hoch. Bis zur Haltestelle der Straßenbahn würde es schon gehen. Als er dort ankam, war aus dem leichten Nieseln ein ordentlicher Landregen geworden. Er schaute zu der Haltestelle hinüber, als er ein kleines Mädchen in dem Wartehäuschen sitzen sah. Die Kleine hielt ein Tier, eine Hexe aus Stoff, ganz fest in den Armen. Sie war lediglich mit einem dünnen Leibchen bekleidet und schien

 

schrecklich zu frieren. Sofort berührte das arme Kind das Herz des Alten und er beschleunigte seine Schritte. Etwas außer Atem ließ er sich neben der Kleinen auf die Bank in dem Wartehäuschen fallen.

 

„Wer bist denn du? Und was machst du zu so später Stunde denn noch hier, meine Kleine?“

 

Das Mädchen mit dem goldlockigen Haar antwortete ohne von der Straße aufzuschauen. „Ich heiße Margret! Mein Stiefvater hat mich hierher gesetzt. Dann hat er mir die Hexe gekauft und gesagt ich solle hier auf ihn warten. Aber er ist schon so viele Stunden fort!“

 

„Sei nicht traurig kleine Margret! Jetzt bin ich ja da, ich bin der Hans. Sag, hast du Hunger?“

 

„Ja, ganz doll! Und schrecklichen Durst!“

 

Hans zog sein Jackett aus und legte es dem kleinen Mädchen um die Schultern. Dann öffnete er seine Tasche und holte die Thermoskanne mit der warmen Milch heraus und öffnete die Box. Er reichte Margret ein Stück Lebkuchen und einen Becher Milch. Die Kleine legte die Hexe auf ihre Beine, klatschte vergnügt in die Händchen und machte sich über beides her. Während sie vergnügt ihren Lebkuchen

 

mampfte und zwischendurch immer mal wieder einen Schluck der warmen Milch trank, bekamen ihre Wangen endlich wieder Farbe.

 

Dann sagte Hans, „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“

 

Mit vollen Backen und genüsslich kauend, nickte das Mädchen und so begann der alte Mann zu erzählen.

 

„Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel…!“ 

 

Erneut klatschte die Kleine ihre Händchen. „Genau wie wir beide!“, rief sie erfreut. Hans lächelte erfreut, nein, er strahlte regelrecht, „Ganz recht! Genau wie wir zwei!“

 

Und so wurde es mit einem Male angenehm behaglich in dem kleinen Wartehäuschen in der großen Messestadt, auf das unaufhörlich der Regen prasselte!